English: Citizen's Income Reform / Español: Reforma del Ingreso Ciudadano / Português: Reforma da Renda Cidadã / Français: Réforme du Revenu Citoyen / Italiano: Riforma del Reddito di Cittadinanza
Die Bürgergeldreform bezeichnet die grundlegende Umgestaltung des deutschen Sozialleistungssystems, die 2023 das bisherige Arbeitslosengeld II ("Hartz IV") ablöste. Sie zielt darauf ab, die soziale Absicherung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten zu verbessern und bürokratische Hürden zu verringern. Die Reform ist Teil einer größeren Debatte über Armutsbekämpfung, Arbeitsmarktintegration und die Balance zwischen staatlicher Unterstützung und Eigenverantwortung.
Allgemeine Beschreibung
Die Bürgergeldreform wurde als Reaktion auf langjährige Kritik am Hartz-IV-System eingeführt, das seit 2005 die Grundsicherung für Arbeitsuchende in Deutschland regelte. Kernpunkte der Kritik waren die als zu niedrig empfundenen Regelsätze, sanktionsbasierte Leistungskürzungen und eine als entwürdigend wahrgenommene Verwaltungspraxis. Das Bürgergeld, offiziell als "Bürgergeld nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II)" bezeichnet, trat am 1. Januar 2023 in Kraft und sollte diese Probleme durch höhere Leistungen, vereinfachte Antragsverfahren und einen Fokus auf Qualifizierung statt Sanktionen adressieren.
Ein zentrales Element der Reform ist die Erhöhung der Regelsätze, die sich nun stärker an der tatsächlichen Armutsgrenze orientieren. Für Alleinstehende stieg der Satz von 449 € (Hartz IV) auf 502 € (2023)* und wird jährlich dynamisch angepasst. Zudem wurden die *Kosten für Unterkunft und Heizung großzügiger übernommen, um Wohnungslosigkeit vorzubeugen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der digitalen Verwaltung: Antrage sollen einfacher online gestellt werden können, und die Kommunikation mit den Jobcentern wurde vereinfacht.
Die Reform ist eng mit dem Koalitionsvertrag der Ampelregierung (2021–2025) verknüpft, der eine "neue Respektkultur" im Sozialstaat verspricht. Kritiker bemängeln jedoch, dass die Reform keine strukturellen Änderungen am System der Bedürftigkeitsprüfung oder der Arbeitsvermittlung vorsieht. Zudem bleibt die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld I und Bürgergeld – ein ursprünglich diskutiertes Ziel – aus. Stattdessen bleibt das Bürgergeld eine steuerfinanzierte Fürsorgeleistung, die an Bedürftigkeit geknüpft ist und keine Versicherungsleistung wie das Arbeitslosengeld I darstellt.
Ein umstrittenes Element ist die sechsmonatige Karenzzeit für Sanktionen, in der Leistungsempfänger:innen keine Kürzungen bei Pflichtverstößen (z. B. verpasste Termine beim Jobcenter) befürchten müssen. Danach gelten zwar wieder Sanktionen, diese sind jedoch weniger hart als unter Hartz IV. Die Reform betont stattdessen Fördermaßnahmen wie Weiterbildungen oder Coaching, um Langzeitarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Dennoch bleibt die Debatte bestehen, ob das Bürgergeld Armut wirksam verhindert oder lediglich die Symptome mildert.
Historische Entwicklung
Die Wurzeln der Bürgergeldreform reichen bis in die 2010er-Jahre zurück, als erste Studien die Unzulänglichkeiten des Hartz-IV-Systems aufzeigten. Besonders die Regelsatzberechnung, die auf veralteten Verbrauchsstatistiken basierte, geriet in die Kritik. 2019 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass die damaligen Sätze nicht verfassungskonform seien, da sie das soziokulturelle Existenzminimum nicht deckten. Dies beschleunigte die Forderungen nach einer Reform.
Im Wahlkampf 2021 wurde das Bürgergeld von der SPD als zentrales Projekt beworben, während Bündnis 90/Die Grünen eine bedingungslose Grundsicherung forderten. Die schließlich beschlossene Reform war ein Kompromiss: Sie behielt die Bedürftigkeitsprüfung bei, erhöhte aber die Leistungen und strich einige als demütigend empfundene Regelungen (z. B. die Vermögensfreigrenzen wurden angehoben). Die Umsetzung erfolgte unter Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), der die Reform als "Paradigmenwechsel" bezeichnete.
Internationale Vorbilder wie das dänische Flexicurity-Modell (Kombination aus flexiblen Arbeitsmärkten und sozialer Absicherung) oder das österreichische Mindestsicherungsmodell dienten als Referenz. Allerdings blieb die deutsche Reform hinter Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen zurück, wie es in Pilotprojekten (z. B. in Finnland 2017–2018) getestet wurde. Stattdessen setzt das Bürgergeld weiterhin auf die Aktivierungspolitik, also die Verknüpfung von Leistungen mit Arbeitsmarktintegration.
Zentrale Änderungen im Vergleich zu Hartz IV
Die Reform brachte mehrere konkrete Neuerungen, die sich direkt auf Leistungsbezieher:innen auswirken:
1. Höhere Regelsätze: Die Anpassung erfolgt nun nach der "Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS)" des Statistischen Bundesamts, die alle fünf Jahre aktualisiert wird. Für 2023 betrug die Erhöhung rund 12 %. Kinder erhalten ebenfalls höhere Sätze (z. B. 348 € für 6- bis 13-Jährige statt zuvor 308 €).
2. Erweiterte Vermögensfreigrenzen: Einzelpersonen dürfen nun 15.000 € (vorher 10.000 €) besitzen, ohne dass dies auf die Leistungen angerechnet wird. Für Paare gilt eine Grenze von 30.000 €. Dies soll Rücklagen für Notfälle ermöglichen, ohne den Leistungsbezug zu gefährden.
3. Wegfall der "Angemessenheitsprüfung" bei Wohnkosten: Unter Hartz IV mussten Mieter:innen oft umziehen, wenn ihre Wohnung als "zu teuer" galt. Das Bürgergeld übernimmt nun tatsächliche Mietkosten für bis zu zwei Jahre, sofern sie nicht "unangemessen" sind. Dies soll Wohnungsverluste verhindern.
4. Digitalisierung der Antragsverfahren: Seit 2023 können Anträge vollständig online gestellt werden, und die "Digitale Akte" im Jobcenter soll Papierkram reduzieren. Kritiker monieren jedoch, dass viele Leistungsbezieher:innen keinen Zugang zu digitalen Geräten haben.
5. Neue Förderinstrumente: Das Bürgergeld sieht vermehrte Qualifizierungsangebote vor, etwa die Übernahme von Kosten für Führerschein, Bewerbungscoaching oder Umschulungen. Zudem gibt es Zuschüsse für Selbstständige, um den Übergang in die Erwerbstätigkeit zu erleichtern.
Anwendungsbereiche
- Arbeitsmarktpolitik: Das Bürgergeld soll durch höhere Leistungen und weniger Sanktionen die Motivation zur Arbeitsaufnahme steigern, indem es Existenzängste reduziert. Gleichzeitig bleiben Arbeitsvermittlung und Qualifizierung zentrale Elemente.
- Sozialpolitik: Die Reform zielt auf die Vermeidung von Armut und die Stärkung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (z. B. durch höhere Regelsätze für Kultur oder digitale Teilhabe).
- Verwaltungsmodernisierung: Die Digitalisierung der Jobcenter soll Bürokratie abbauen und Prozesse beschleunigen, etwa durch automatisierte Berechnungen der Ansprüche.
- Familienpolitik: Durch höhere Kindergeldzuschläge und erleichterte Vermögensregeln für Familien soll Kinderarmut bekämpft werden.
- Wohnungspolitik: Die Übernahme höherer Mietkosten soll Obdachlosigkeit verhindern, besonders in Ballungsräumen mit hohen Mieten.
Bekannte Beispiele
- Pilotprojekte in Kommunen: Einige Städte wie Berlin-Neukölln oder Dortmund testeten vor der Reform vereinfachte Antragsverfahren und digitale Jobcenter-Dienste, die später in das Bürgergeld integriert wurden.
- Finnlands Grundeinkommensexperiment (2017–2018):** Obwohl nicht direkt übertragbar, beeinflusste das Projekt die Debatte um bedingungslose Leistungen in Deutschland. Die Bürgergeldreform griff jedoch nur Teilaspekte (z. B. weniger Sanktionen) auf.
- "Hartz-IV-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts (2019):** Das Gericht erklärte die damaligen Regelsätze für verfassungswidrig, was die politische Dringlichkeit der Reform erhöhte.
- "Bürgergeld"-Kampagne der SPD 2021: Die Partei warb im Wahlkampf mit dem Slogan "Respekt statt Hartz IV**", was später zum offiziellen Namen der Reform wurde.
Kritik und Kontroversen
- Unzureichende Armutsbekämpfung: Trotz höherer Sätze liegen die Leistungen weiterhin unter der Armutsrisikogrenze (60 % des medianen Nettoeinkommens). Organisationen wie der Paritätische Wohlfahrtsverband fordern weitere Erhöhungen.
- Bürokratie bleibt bestehen: Obwohl Antrage digitaler werden, klagen Betroffene über komplexe Nachweispflichten (z. B. für Nebenkosten oder Einkommensänderungen).
- Finanzierungskritik: Die Reform kostet den Staat jährlich rund 5 Milliarden € mehr als Hartz IV. Die FDP warnt vor einer "Schuldenunion", während die Linke die Umverteilung von Vermögenden fordert.
- Sanktionen nach Karenzzeit: Nach sechs Monaten können wieder Leistungen gekürzt werden, was Kritiker als "Sanktionsmoratorium auf Zeit" bezeichnen.
- Fehlende Arbeitsmarktreformen: Die Reform ändert nichts an strukturellen Problemen wie Niedriglöhnen oder prekären Beschäftigungsverhältnissen, die oft in die Grundsicherung führen.
- Digitale Kluft: Ältere oder technisch unversierte Leistungsbezieher:innen haben Schwierigkeiten, die online-basierten Antrage zu nutzen.
Ähnliche Begriffe
- Bedingungsloses Grundeinkommen: Ein Modell, bei dem alle Bürger:innen ohne Bedürftigkeitsprüfung eine monatliche Zahlung erhalten. Im Gegensatz zum Bürgergeld, das an Bedingungen geknüpft ist.
- Arbeitslosengeld I: Eine Versicherungsleistung der Arbeitsagentur für Personen, die zuvor in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Das Bürgergeld ist dagegen eine steuerfinanzierte Fürsorgeleistung.
- Sozialhilfe (SGB XII): Leistungen für nicht erwerbsfähige Personen (z. B. Rentner:innen oder Schwerbehinderte). Das Bürgergeld richtet sich hingegen an Erwerbsfähige.
- Flexicurity: Ein dänisches Modell, das flexible Arbeitsmärkte mit hoher sozialer Absicherung kombiniert. Das Bürgergeld übernimmt Elemente davon, etwa Qualifizierungsangebote.
- Mindestsicherung: In Ländern wie Österreich oder der Schweiz existierende Systeme, die ähnlich wie das Bürgergeld funktionieren, aber oft höhere Leistungen vorsehen.
Zusammenfassung
Die Bürgergeldreform markiert einen Epochenwechsel in der deutschen Sozialpolitik, indem sie die als entwürdigend empfundenen Strukturen von Hartz IV durch höhere Leistungen, weniger Sanktionen und mehr Digitalisierung ersetzt. Dennoch bleibt sie ein Kompromiss: Einerseits verbessert sie die materielle Situation von Leistungsbezieher:innen, andererseits ändert sie nichts an grundlegenden Problemen wie Niedriglöhnen oder bürokratischen Hürden. Die Reform ist damit ein Schritt hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, aber kein radikaler Systemwechsel.
Langfristig wird sich zeigen, ob das Bürgergeld sein Ziel erreicht, Armut zu verringern und Arbeitsmarktintegration zu fördern. Kritische Stimmen fordern weitere Reformen, etwa eine Zusammenlegung mit dem Arbeitslosengeld I oder eine Abkehr von Bedürftigkeitsprüfungen. Die Debatte um das Bürgergeld bleibt damit ein zentrales Thema der deutschen Sozialpolitik.
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